„Aufgrund einer fehlenden baulichen Abtrennung zur xy-straße hatte das Straßenverkehrsamt verfügt, den verkehrsberuhigten Bereich „Gemarkungsname“ aufzuheben. Der Gemeinderat hat beschlossen, am Kreuzungsbereich bauliche Veränderungen vorzunehmen, damit der bisherige verkehrsberuhigte Bereich „Gemarkungsname“ wieder hergestellt werden kann.“
So stand’s im Juni im örtlichen Amtsblatt. Denn folgendes war geschehen:
Das Verkehrszeichen 325.2. Auf der Rückseite befindet sich sein Freund, das Verkehrszeichen 325.1.
In das Wohngebiet, in dem unser Haus steht, kommt man nur von einer Seite rein. Eine schmale Straße, mit Rinnstein in der Mitte, von der seitlich die Einfahrten zu den Häuserreihen abgehen. Am Ende ein Wendehammer. Verkehrsberuhigter geht es kaum. Jahrelang stand an der Einfahrt ein Spielstraßenschild. Bis dann irgendein Schaf vorbeikam, das die Straßenverkehrsordnung und die zugehörigen Verwaltungsvorschriften (VwV-StVO) auswendig gelernt hat, und feststellte, dass bei der Anlage dieser Straßenführung ein Fehler gemacht worden ist. Denn laut VwV-StVO II. zu den Zeichen 325.1 und 325.2 Verkehrsberuhigter Bereich müssen „[d]ie mit Zeichen 325.1 gekennzeichneten Straßen […] durch ihre besondere Gestaltung den Eindruck vermitteln, dass die Aufenthaltsfunktion überwiegt und der Fahrzeugverkehr eine untergeordnete Bedeutung hat.“ Hier nachzulesen.
Das bedeutet im Klartext: „der verkehrsberuhigte Bereich [vulgo: die Spielstraße] muss baulich so angelegt sein, dass der typische Charakter einer Straße […] nicht vorherrscht.“ (Quelle: Wikipedia). Damit muss sich die Spielstraße also baulich von den angrenzenden nicht-Spielstraßen unterscheiden. Damit die Verkehrsteilnehmer auf den ersten Blick erkennen: „Irgendwas ist anders.“ Und sich dann im besten Falle sagen: „Vielleicht sollte ich mal schauen, ob da auch ein Schild steht, das mir sagt, warum das hier anders ist und wie ich mich verhalten soll.“
Das jedoch war bei unserer Straße eben nicht der Fall, und damit ging der Ärger los. Denn irgendjemand wies wohl im Frühjahr das Straßenverkehrsamt darauf hin, dass sich da in Kuppenheim eine illegale Spielstraße eingenistet hat. Ein ungehöriger Zustand, wie auch die Straßenverkehrsbehörde erkannte und sogleich verfügte, dass das Verkehrszeichen 325.1 (inklusive des rückseitig aufgebrachten 325.2) quasi über Nacht abgebaut wurde.
Nun bin ich wahrlich kein Freund des übertriebenen Schilderwaldes, aber in diesem Fall empfand ich das Entfernen des besagten Verkehrszeichens 325.1 (inklusive des rückseitig aufgebrachten 325.2) dann doch als störend. Denn für die recht zahlreichen Kinder (von denen ich mit zweien auch nicht unwesentliche Mengen des Erbgutes teile), die ungeachtet der Verkehrsentruhigung des Bereiches im beginnenden Sommer auf dem baulich nur unzureichend abgegrenzten Straßenzug herumtobten, galt damit nur ein eingeschränkter Artenschutz. Ähnlich ging es den meisten Anwohnern der Siedlung, deren Ärger sich nicht nur an der Tatsache entspann, dass besagtes Verkehrszeichen abgehängt wurde, sondern auch an der Art und Weise des Nacht-und-Nebel-Abhängens.
So kam es also im Juni zu dem denkwürdigen Ortstermin, der sicher dereinst als „Die Große Spielstraßenbegehung“ in die Chroniken der Gemeinde eingehen wird. Der Stadtrat tauchte ebenso vollständig auf wie die Anrainerschaft des ehemals verkehrsberuhigten Bereichs. Leider hatte irgendjemand vergessen, Bierstand und Bratwurstgrill zu organisieren. Sei’s drum: Der Bürgermeister ließ es sich nicht nehmen, den Anwesenden für ihr zahlreiches Erscheinen zu danken, denn wichtig sei ja, dass man sich austausche. Sodann leitete er mit den Worten „Hier ist ein Fehler passiert“ die Darstellung des Sachverhaltes ein. Der Fehler bestand natürlich in der unzureichenden baulichen Abgrenzung des verkehrsberuhigten Bereichs von den angrenzenden Verkehrsnutzungsräumen. Der Hinweis auf die fälschliche Ausweisung des Gebietes als Spielstraße sei lediglich dem geltenden Gesetzestext entsprungen. Die Stadt habe ja leider keine andere Wahl gehabt, als das Schild zu entfernen, denn so geht’s ja nun wirklich nicht. Wo kämen wir denn da hin. Recht muss Recht bleiben. So will es das Gesetz.
Man musste schon froh sein, dass in diesem obrigkeitsfürchtigen Landstrich nicht noch mal ein Sonderapplaus für den anonymen Hinweisgeber eingefordert wurde, der ja schließlich dafür gesorgt hatte, dass hier schreiendes Unrecht beseitigt wurde. Anstelle eines derartigen Appells dankte der Bürgermeister lieber den Anwesenden für ihr zahlreiches Erscheinen, denn nur im Dialog könne dies jetzt gelöst werden.
Bevor dieser jedoch in Gang gesetzt werden konnte, erörterte der Bürgermeister noch rasch die Alternativen, die sich kurz zusammenfassen lassen:
1.) Alles bleibt, wie es ist. Das kostet nichts.
2.) Die Einfahrt in den vormals verkehrberuhigten Bereich wird baulich so umgestaltet, dass sich eine eindeutige Abgrenzung von den angrenzenden Verkehrswegen ergibt und damit die Voraussetzung für die Wiedereinrichtung des verkehrsberuhigten Bereiches geschaffen sind. Das kostet Geld und sorgt für eine bauliche Behinderung.
Erfolgreiche Baumaßnahme: der verkehrsberuhigte Bereich ist wirklich deutlich abgegrenzt.
Nun war es aber an der Zeit, den Anwesenden für Ihr Kommen („und die Kinder sind ja auch dabei“) zu danken, schließlich gelte es, über eine konstruktive Diskussion zu einem für alle Seiten zufriedenstellenden Ergebnis zu kommen. Der Dialog wurde dann eingeleitet mit der Frage, ob sich das Fehlen des Verkehrszeichens irgendwie bemerkbar macht, woraufhin einige der Anwohner von rasenden Paketdienstfahrern und rücksichtslosen Lieferanten berichteten. Zwei kurze Exkurse gab es über die aus dem Fehlen der Verkehrszeichens 325.1 erwachsenden Parkmöglichkeiten im Siedlungsbereich sowie die Vorfahrtsregelungen, die aber letztlich als wenig der Sache dienlich rasch beendet wurden. Die Tatsache, dass die Kinder vor Ort die Straße als Spiel- und Erlebnisraum aktiv nutzen wurde noch rasch demonstriert, ehe der Bürgermeister schon anhob, sich für das zahlreiche Erscheinen aller Stadträte und Anwohner zu bedanken.
Er wurde aber unterbrochen von einem der Anwohner, der außerhalb seiner Freizeit als Ordnungshüter im Dienste der baden-württembergischen Staatsmacht tätig ist. Dieser verschaffte sich nicht nur aufgrund seiner polizeilichen Autorität sondern vor allem wegen seiner Fähigkeit, das Thema im gleichen bürokratischen Duktus zu behandeln, wie die Damen und Herren Magistrate, direkt Gehör. Er verwies darauf, dass sich die bauliche Abgrenzung ja womöglich auch durch eine farbliche Kennzeichnung bewerkstelligen lasse. Das sei in einer benachbarten Gemeinde auch so realisiert worden und sei doch sicher kostenschonender als eine echte Baumaßnahme. Die plötzlich auftauchende Kompromisslinie wurde aber vom Bürgermeister eher skeptisch hingenommen, schließlich müsse – selbst wenn eine derartige Farbaufbringung dem Geist der VwV-StVO II. entspräche (wessen er sich aber wahrlich nicht sicher sei) – ja auch bedacht werden, dass eine solche Lösung doch immer wieder erneuert werden müsse, bis ans Ende aller Tage. Ob man denn wirklich verantworten könne, eine solche Erbsünde an die kommenden Generationen weiterzugeben? Man wolle die Sache jedoch im Stadtrat durchaus noch einmal genauer prüfen. Für ihn habe das Stimmungsbild, das sich aus dem hervorhebens- und dankenswerten Dialog ergab, eindeutig gezeigt, dass die Anwohner ihre Spielstraßen (er sagte wirklich „ihre Spielstraße“) zurückhaben wollen und die Lösung des Problems also in der kommenden Stadtratssitzung endgültig beschlossen werden solle.
Nun war es an der Zeit, den Anwohnern nicht nur für ihr Erscheinen sondern vor allem für ihr konstruktives Mitwirken zu danken und das Wort an die Stadträte zu übergeben. Ob sie denn wohl noch Anmerkungen hätten? Das ist in nahezu jedem Gemeinwesen traditionell der Moment, in dem sich die geltungsbedürftigen Spinner zu erkennen geben – und auch in Kuppenheim ist diese Tradition höchst lebendig. Es trat also ein bärtiger Stadtrat vor, der seiner Verwunderung Ausdruck geben wollte, dass hier nicht mehr Eigeninitiative von den Anwohnern zu erkennen sei. Es gäbe doch sicher auch noch andere Wege, im Sinne der Kinder aktiv zu werden, als nur die Hand aufzuhalten und den Stadtsäckel zu erleichtern. Gefragt, auf welche Wege er referenziere, verwies er auf die Möglichkeit, selbstgemalte und von den Kindern gestaltete Schilder mit der Aufforderung „Langsam Fahren“ an den Straßenrand zu stellen. Der Hinweis, dass das eigenmächtige Aufstellen von wie auch immer gearteten Verkehrszeichen rechtswidrig sei und derlei Hinweise im Unfall-Fall auch leider keinerlei rechtliche Bindung hätten, ging in der allgemein einsetzenden empörten Erheiterung unter. Der Bürgermeister dankte abschließend schon wieder diesem und jenem für dies und das, und die Stadträte zogen ebenso von dannen wie die Anwohner.
Am nächsten Abend schon beschloss der Stadtrat, dass zur Wiederherstellung des verkehrsberuhigten Bereiches eine entsprechende Maßnahme zur baulichen Abgrenzung erfolgen wird.
Vier Monate lang passierte nichts.
Dann, eines bereits sehr herbstlichen morgens, schob sich rumpelnd und kreischend eine Monstrosität, die am besten mit dem Begriff „Asphaltfräse“ betitelt wäre, durch den Ort und fräste überall dort Asphalt ab, wo der Stadtrat in seiner unendlichen Weisheit und Güte die Umsetzung von straßenbaulichen Maßnahmen angeordnet hat. Einen ganzen Tag und einen halben war das Städtchen erfüllt vom Lärm des Gerätes, dann kehrte wieder Ruhe ein.
Sechs Wochen lag passierte nichts.
Der Bordstein der heiligen Verkehrsberuhigung.
Es wurde langsam Winter, und die Einfahrt in unsere Siedlung war durch die auf voller Breite abgetragene Asphaltoberfläche deutlich sichtbar baulich von der angrenzenden Straße abgegrenzt. Bei Regen sammelte sich das Wasser in der Mulde, und die Kinder warteten schon fieberhaft auf den ersten richtigen Frost, damit sie darauf Schlittschuhlaufen könnten. Doch eines morgens im November tauchten erst Schilder, dann Absperrbarken und schließlich Baugerät auf. Ohne Vorankündigung begannen nun endlich die Bauarbeiten. Zum Ein- und Ausfahren aus der Siedlung diente nun ein schmaler Fußweg, der nun ausnahmsweise für Autos befahrbar war. Sofern man durchpasste.
Rund zwei Wochen dauerte es, die Asphaltdecke wieder herzurichten und den notwendigen Bordstein einzuziehen, der dann hoffentlich eine ausreichende bauliche Abgrenzung im Sinne der VwV-StVO II. darstellt. Zwei Wochen, weil durch den späten Bauzeitpunkt das Wetter gar nicht mehr so geeignet war für Straßenbau.
Nun endliche, rund acht Monate nachdem das Verkehrszeichen 325.1 (inklusive des rückseitig aufgebrachten 325.2) entfernt worden ist, steht es wieder da. Noch gab es kein Nachbarschaftsfest, aber ich bin sicher, dass wir Anwohner uns spätestens an Silvester mit einem Glas Sekt dort einfinden werden und uns gegenseitig für den konstruktiven Dialog und unser zahlreiches Erscheinen danken werden.